Kreisarchiv forscht nach NS-Zwangssterilisationen und NS-Euthanasiemorden im heutigen Kreisgebiet
Im Jahr 1948 machte eine Frau aus dem Wittlicher Tal gegenüber ihrem Bürgermeister folgende Aussage: „Ich erhielt im Jahr 1936 von dem Gesundheitsamt in Wittlich die Aufforderung, mich an einem bestimmten Tag dort zu einer Untersuchung zu melden. Hier wurden mir verschiedene Fragen gestellt, um meine Kenntnisse zu überprüfen. Da ich sehr aufgeregt war, und zwar dadurch, weil ich zur Untersuchung sollte und stattdessen nur Fragen vorgelegt bekam, wann Adolf Hitler geboren ist usw. war ich nicht in der Lage, auch nur eine Frage zu beantworten. Dieses nahm ungefähr 15 Minuten in Anspruch. Hierauf wurde ich entlassen, ohne untersucht zu sein. Die in ihrer noch heute im Landeshauptarchiv Koblenz erhaltenen Akte aus der NS-Zeit nachzulesende Diagnose des Amtsarztes lautete: „Angeborener Schwachsinn“
Zwangssterilisierte und Euthanasietote – Vergessene NS-Opfergruppen
Wer ins Gesundheitsamt geladen wurde, befand sich im Fokus des Staates. Ziel war es, sogenanntes minderwertiges Erbgut auszumerzen. Die Menschen sollten unfruchtbar gemacht und viele von ihnen ab 1939 systematisch in den NS-Euthanasie-Mordaktionen durch Gas, Todesspritzen und andere Methoden getötet werden. Während der Zeit des Nationalsozialismus fielen mehr als 300.000 Menschen der NS-Euthanasie zum Opfer – vorwiegend körperlich und geistig Behinderte, psychisch Kranke nach nationalsozialistischer Definition und vor allem kranke und körperbehinderte Kinder. „Ein weltweit einmaliges Verbrechen“, urteilt Ernst Klee im Vorwort der Neuauflage seines Standardwerks „Euthanasie im Dritten Reich“ (2010).
Vorladung zum Amtsgericht – Sterilisation über den Kopf hinweg angeordnet
Die Frau berichtete dem Bürgermeister weiter: „Einige Tage später wurde ich zu dem Amtsgericht in Wittlich vorgeladen, wo mir wieder Fragen über das Allgemeinwissen gestellt worden sind. Auch diese Vorsprache war nicht von langer Dauer. Einige Zeit später erhielt ich die Aufforderung, mich zwecks Vornahme einer Sterilisation in einem Krankenhaus in Trier zu melden.“
Kreiskrankenhaus Wittlich, Ev. Krankenhaus Trier und Kreiskrankenhaus Saarburg waren NS-Sterilisationsstätten
Mit dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ vom 14. Juli 1933 begann eine massive Anzeigewelle gegenüber den staatlichen Gesundheitsämtern, die am 1. April 1935 in allen Landkreisen eröffnet worden waren. Ihre Aufgabe bestand darin, die ihnen angezeigten Personen und Familien zu begutachten und sie den Erbgesundheitsgerichten zu melden. Diese ordneten nach den Diagnosen der begutachtenden Ärzte Zwangssterilisierungen in ausgewählten Krankenhäusern an. Für die hiesige Region waren zur Durchführung des chirurgischen Eingriffs das Kreiskrankenhaus Saarburg (Männer), das Kreiskrankenhaus Wittlich (Männer), das Evangelische Krankenhaus Trier (Frauen und Männer) zuständig.
Glück im Unglück
Die Frau hatte Glück im Unglück. Sie wurde zwar im Ev. Krankenhaus in Trier zwangssterilisiert, aber befand sich zu dieser Zeit in einem frühen Schwangerschaftsstadium und gebar einige Monate später ein gesundes Kind.
Zwangssterilisationen – ein Massenphänomen
„Es gibt kaum einen Ort auch in unserer Region, der nicht davon betroffen war“ schreibt der Historiker Professor Dr. Erwin Schaaf, in der Landkreis-Chronik „Zeitenwende – Das 20. Jahrhundert im Landkreis Bernkastel-Wittlich“ aus dem Jahr 2000. Die Feststellung war für die Leiterin des Kreisarchivs, Claudia Schmitt, einer der Ausgangspunkte ihrer Recherchen. Sie bekam Hilfestellung vom Landeshauptarchiv Koblenz. Denn es hat – seit der einsetzenden Forschungswelle zur NS-Euthanasie – eine intensivere Erschließung seiner Aktenbestände der Gesundheitsämter in der NS-Zeit durchgeführt, um diese Archiv-Quellengruppe zur wissenschaftlichen Erforschung nutzbarer zu machen. Die Aktenbestände des Gesundheitsamtes Wittlich und des Gesundheitsamtes Bernkastel aus den Jahren 1935 bis 1944 enthalten Hunderte sogenannter „Erbgesundheits-Einzelfallakten“. Claudia Schmitt filterte 146 Akten des Gesundheitsamtes Wittlich heraus mit Anzeigen zur Sterilisierung sowie Berichten über ausgeführte Sterilisierungen.
Zufallsfund bringt weitere Sterilisationsfälle zutage
Beim Ausräumen eines Schreibtisches in der Kreisverwaltung war im letzten Jahr eine alte Mappe gefunden worden, die dem Kreisarchiv übergeben wurde. Ihr Inhalt ist ein erschütternder bürokratischer Nachweis der Zwangssterilisierungen in fast allen Orten des Altkreises Wittlich. Es ist eine handschriftliche „Liste der vorgenommenen Unfruchtbarmachungen auf Grund des Gesetzes vom 14. Juli 1933“ der Jahre 1935-1943 des (Alt-)Kreises Wittlich. In ihr sind 213 Personen aufgeführt. Nach einem Abgleich mit den Erbgesundheitsakten des damaligen Wittlicher Gesundheitsamtes sind mit Eingriffsdatum und Angabe des ausführenden Krankenhauses insgesamt 255 zwangssterilisierte Personen aus dem Altkreis Wittlich ermittelt worden.
Zwangssterilisationen schon bei Jugendlichen – Vorführungen durch Polizei
Die erste derzeit bekannte Sterilisierung an einer Person aus dem Altkreis Wittlich wurde im September 1935 im Evangelischen Krankenhaus Trier durchgeführt, die zweite im November 1935 in der Universitäts-Frauenklinik Bonn. Ab 1936 wurden Männer im Kreiskrankenhaus Wittlich, ebenso aber auch im Evangelischen Krankenhaus Trier sterilisiert. Der letzte bisher bekannte Eingriff fand am 28. 10. 1943 im Kreiskrankenhaus Saarburg an einer Frau statt.
Schon bei einer 13-Jährigen wurde der Eingriff vorgenommen, die älteste Frau war 46 Jahre. Von den Männern war der älteste 52 und der vermutlich jüngste Sterilisierte 16 Jahre alt.
Es gab Zwangsüberstellungen von Personen, die sich geweigert hatten, zum angeordneten Sterilisierungstermin im angegebenen Krankenhaus zu erscheinen. Sie wurden von der Polizei ins Krankenhaus überstellt. Dokumentierte sind Fälle aus Wittlich, Bausendorf, Krinkhof, Salmrohr, Kröv, Laufeld, Großlittgen und Flußbach.
Wer zeigte die Menschen bei den Gesundheitsämtern an?
Es stellt sich die Frage: „Wer hatte all die Menschen beim Gesundheitsamt angezeigt?“. Die Antwort der Fachliteratur hierzu: Ärzte, Hebammen, Heil- und Pflegeanstalten, Fürsorgeheime. Sie alle waren verpflichtet, dem zuständigen Gesundheitsamt des Wohnortes kranke oder körperbehinderte Personen zu melden.
Die Sichtung des Aktenmaterials im Landeshauptarchivs Koblenz erbrachte eine weitere Personengruppe: Durch eine Verfügung des Landrats waren auch Ortsbürgermeister und Ortsvorsteher verpflichtet, Personen zu melden, die unter das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ fielen: Körperbehinderte, Blinde, Taube, körperlich und seelisch Kranke, Geisteskranke und Alkoholiker.
Auch der Bericht eines Musterungsarztes taucht im Aktenmaterial auf. Er meldete dem Wittlicher Landrat fünf „dienstpflichtige Männer“ aus dem Landkreis Wittlich zur Sterilisierung.
Nach der Zwangssterilisierung in die Gaskammer
Dank des Gymnasiallehrers Franz-Josef Schmit, der bereits vor dem Jahr 2012 Recherchen zur NS-Euthanasie im Bundesarchiv, Nebenstelle Berlin, durchgeführt hatte, waren dem Kreisarchiv vier Menschen aus dem heutigen Landkreis bekannt, die der Euthanasie-Tötungsaktion zum Opfer gefallen waren. Der lokalgeschichtlich engagierte Lehrer hat seine Ergebnisse dem Kreisarchiv zum Weiterforschen überlassen.
Derzeit sind zu den von Franz-Josef Schmit gefundenen vier Euthanasie-Mordopfern folgende fünf Todesfälle nachweisbar: Eine Frau starb in einem Koblenzer Krankenhaus nach dem Sterilisationseingriff mit 24 Jahren, eine andere mit 34 Jahren am 17. 2. 1941 in der Heil- und Pflegeanstalt Bernburg. Sie ist eine der sechs großen Euthanasie-Tötungsanstalten mit Gaskammer. Drei Personen, für die auch Sterilisationsanzeigen vorlagen, sind mit 20, mit 39 und mit 52 Jahren laut Gesundheitsamtsakten 1940, 1941 und 1942 aktenkundig verstorben. Ihre Diagnosen lauteten: „Angeborener Schwachsinn“.
Die Auswertung des bisher gesichteten Aktenmaterials ergab weitere 27 Verdachtsfälle unter den Sterilisationsopfern für mögliche Euthanasiemorde. Es sind vor allem Kinder, Jugendliche und Erwachsene in Anstalten (Heil- und Pflegeanstalten, Fürsorgeheimen). Die Recherchen werden im Landeshauptarchiv Koblenz fortgesetzt, auch die Ermittlung der Zwangssterilisations-Opfer aus dem Altkreis Bernkastel und dem Bereich Traben-Trarbach, der damals zum Kreis Zell gehörte.
Internet-Erinnerungsseite des Kreisarchivs für vergessene Randgruppen der NS-Zeit
Unter www.kreisarchiv.bernkastel-wittlich.de ist im Internet ein neuer Link „Archiv für Kultur und Geschichte des Landkreises Bernkastel-Wittlich“ eingerichtet worden. Dort findet sich auch eine Erinnerungsseite für Opfer des Nationalsozialismus aus dem Bereich des heutigen Landkreises. Hier besteht die Möglichkeit, öffentlich einem Opfer des Nationalsozialismus, das jahrzehntelang von der Gesellschaft und der Geschichtsforschung vergessen wurde, zu gedenken.
Wer Informationen sucht, einen NS-Euthanasie- oder Zwangssterilisierungsfall in der Familie vermutet, oder wer einen Menschen auf der Erinnerungsseite des Kreisarchivs anonymisiert beschreiben oder mit Namen nennen will, kann sich bei Claudia Schmitt vom Kreisarchiv Tel.: 06571/96633, Fax: 06571/14 42 905, E-Mail: claudia.schmitt[at]bernkastel-wittlich.de melden.
Extra: Orte der Zwangssterilisation
Mit exaktem Sterilisationsdatum hat das Kreisarchiv Bernkastel-Wittlich 255 Personen aus dem Altkreis Wittlich in eigenen Archivalien und im Aktenmaterial des Landeshauptarchivs ermittelt. Die Eingriffe wurden durchgeführt:
- im Kreiskrankenhaus Wittlich (64 Männer)
- im Ev. Krankenhaus Trier (121 Personen)
- im Kreiskrankenhaus Saarburg (7 Männer)
- im Elisabeth-Krankenhaus Koblenz (17 Personen)
- im Krankenhaus Neuwied (4 Personen)
- in der Universitäts-Frauenklinik Bonn (9 Frauen)
- in der Heil- und Pflegeanstalt Eichberg bei Wiesbaden (2 Personen)
- in Köln (1 Person), Essen (1 Person), Krefeld (1 Person), Heinsberg (1 Person) Heidelberg (1 Person), Schönbeck (1 Person), und Viersen (1 Person)